Freitag, 17. Mai 2013

Mit anderen Augen

Die Teilnehmer des 1. Fotomarathon Stuttgart. Foto: fmtn stgt 2013

 100 Fotografen, sechs Stunden, zwölf Bilder – der erste Stuttgarter Fotomarathon feierte im Mai eine erfolgreiche Premiere. Und mittendrin ich. Gemeinsam mit anderen Hobby- und Profifotografen habe ich mich auf eine spannende und kreative Entdeckungsreise quer durch die Landeshauptstadt begeben. Und viel dabei entdeckt...

»Und? Fertig?«, erreicht mich am Freitagmittag die Nachricht eines Freundes. »Ich bin noch nicht mal zu Hause angekommen«, meine Antwort. Es ist der Vortag einer Premiere, wie es sie in Stuttgart bislang noch nicht gab. Ich, soeben aus dem sonnigen Urlaub gelandet, habe Großes vor: meinen ersten Marathon – den ersten Stuttgarter Fotomarathon. Was ich dabei fotografieren werde? Das weiß ich genauso wenig wie die anderen 99 Teilnehmer. Vor Wochen habe ich mir meinen Startplatz gesichert. Ich möchte die Stadt, in der ich auf den Tag genau seit 20 Jahren lebe, neu für mich entdecken. Sie mit anderen Augen sehen. Sehen, was andere nicht sehen. 

Als am Samstag der Wecker klingelt, bin ich erstaunlich schnell auf den Beinen. Das ist noch nicht mal unter der Woche üblich, geschweige denn am Wochenende. Aber jetzt gilt‘s. Fotoausrüstung noch schnell gecheckt, eine Flasche Wasser in den Rucksack gestopft und ab zum Zollamt. Dort ist um 9 Uhr früh Treffpunkt und Startnummervergabe für die Teilnehmer. Von Profiausrüstung mit teuren Spiegelreflex-Kameras bis hin zum Smartphone ist alles da. Die Anspannung und Vorfreude ist bei allen groß. Pünktlich um 10 Uhr bekommt den ersten der insgesamt vier Laufzettel mit den Aufgaben in die Hand gedrückt. Das alles beherrschende Thema der Bilder soll »Ich sehe was, was du nicht siehst« lauten. »Yeah!«, jubele ich spontan. »Das passt ja perfekt!« Dazu werden über den Tag verteilt zwölf Aufgaben gestellt, die man am Schluss in der exakten Reihenfolge auf seiner Speicherkarte haben muss. »Um die Ecke denken«, geben die Organisatoren noch einen letzten Tipp mit auf den Weg und bewaffnet mit einem Stadtplan machen wir uns auf denselbigen.

Die erste Aufgabe lautet »...das macht Spaß«, dabei muss die Startnummer »kreativ ins Bild eingearbeitet sein«. Wir sind in unmittelbarer Nähe zum Wasen, da gibt es jede Menge Spaß. Doch das ist mir zu offensichtlich. Ich überlege, was mir Spaß bereitet. Die Antwort ist schnell gefunden: der VfB. Gut, vielleicht nicht immer. Aber doch immer öfter. Und vom Zollamt zum Stadion ist es auch nur ein Katzensprung. Also noch kurz den Kumpel, der sich mit mir auf die Reise macht, bequatschen und ab zum Stadion. Jetzt nur noch die 54 – meine Startnummer – dort finden. 54! Da war doch was! 1954! VfB Stuttgart war Pokalsieger... Das erste Bild – ein Foto der Siegermannschaft – ist im Kasten. »Also wenn das nicht kreativ ist«, denke ich mir und bin spontan euphorisiert. Fängt schon mal gut an. Weiter geht‘s.

Die nächsten Aufgaben lauten »...das ist schief gewickelt« und »...das ist wie Urlaub«. Das Hirn arbeitet wie die Arbeiter in der Daimler-Gießerei.  »Schief gewickelt...« Ich laufe an Kabeltrommeln vorbei, an dem Mann mit den Luftballons auf dem Wasen, an Dirndln – doch irgendwie spricht mich das alles nicht so recht an. »Um die Ecke denken« klingt noch in meinen Ohren. Und Zeit ist ja noch massig vorhanden. Schließlich habe man ja bis 13 Uhr Zeit, sich den nächsten Zettel abzuholen. Also weiter grübeln, ausprobieren, verwerfen, wieder neu überlegen. Letztendlich sind auch diese beiden Bilder im Kasten. Derweil schlendern wir zu zweit gemütlich durch den Regen und den Rosensteinpark zum nächsten Ausgabepunkt an der Löwentorbrücke, treffen dabei andere Teilnehmer, tauschen und kurz mit diesen aus. Die Stimmung ist locker und gelöst. Ein Team von dem Organisationskomitee kreuzt den Weg. Sie sagen, dass ein Teilnehmer schon alle Checkpoints durch hat. »War er mit einem Hubschrauber unterwegs?«, denke ich mir noch. Gucke auf die Uhr. Es ist ca. 12 Uhr. Noch genug Zeit. Denke ich. Noch.

Den zweiten Zettel in der Hand, steigt plötzlich der Puls. Nächste Station ist die Feuerwache im Stuttgarter Süden. Zeitansatz: bis 14 Uhr. Das sind anderthalb Stunden! Wie zur Hölle, sollen wir das schaffen?! Mein Begleiter hat noch nicht mal sein Urlaubsbild und schon warten mit »...das ist voll daneben«, »...das ist symmetrisch«, »...das ist unbezahlbar« und »...das ist typisch Stuttgart« die nächsten vier Aufgaben. Wir beschließen zum ersten Mal auf die Möglichkeiten der öffentlichen Personenbeförderung zurückzugreifen – für eine Haltestelle. An der Stadtbibliothek suchen auch andere nach passenden Motiven. Ich tippe mal auf Symmetrie. Es geht im Stechschritt gen Süden. Dort angekommen, ändern wir unsere Taktik und verfluchen den Mann mit dem Hubschrauber. Jetzt gilt es, erstmal alle Aufgaben einzusammeln und dann die Fotos zu machen.

Es sind Aufgaben wie »...das ist Kunst. – Oder kann das weg?«, »...das ist gesichtslos«, »...das ist würzig«, »...das ist schwarz und weiß« oder die finale Aufgabe »...das bin ich«, man auf die Kamera bringen muss, bis Punkt 16 Uhr. Ideen habe ich viele. Nur die Zeit, diese umzusetzen fehlt. »Das nächste Mal bin ich schlauer.« Ich schätze das hat mindestens die Hälfte aller Teilnehmer auch gedacht.

Mein letztes Bild entsteht um 15:58 Uhr. Und was bleibt, ist ein Tag, der mich vor neue Herausforderungen gestellt, der mir die Sicht auf die Dinge erweitert und neue Bekanntschaften eingebracht hat. Unterm Strich steht jede Menge Spaß. Nächstes Jahr gerne wieder. Und ob ich eine Chance auf die ersten Plätze habe? Nein. Aber darum ging es auch nicht. Bei einem Marathon zählt eh nur das Ankommen.


So, und hier sind meine gesammelten 12 Werke

...das macht Spaß

„Was mir Spaß macht? Klar. Fußball! VfB! Und Startnummer? 54! Da war doch was. Pokalsieg 1954. Also auf zum Stadion...“
 


...das ist schief gewickelt

„Um die Ecke denken, lautete die Aufforderung der Marathon-Macher. Also denke ich mal um die Ecke. Das dachte sich wohl auch die Rose, als sie sich in einen benutzten Plastikbecher 'gewickelt' hat.“
 


...das ist wie Urlaub

„Urlaub? Bin doch erst seit gestern zurück... Aber gut, Stuttgart ist auch Urlaub. Natur, Wasser, das Partyfloß – und alle so 'Yeah!'“
 


...das ist voll daneben

„Schon mal versucht, mit einem leeren Akku zu telefonieren? Also früher ging das noch. Heute kaum noch. Und das ist voll daneben!“
 


...das ist symmetrisch

„Was ist in der Stadt symmetrisch und nicht die Stadtbibliothek? Da habe ich mich für die Brücke im Bankenviertel entschieden. Die ist schön gelb und trotzdem wird sie wohl nur von den wenigsten Menschen gesehen, geschweige denn beachtet.“
 


...das ist unbezahlbar

„An diesem Tag, bei diesem Wetter war ein bisschen Sonnenschein tatsächlich unbezahlbar. Vom Rest des Jahres will ich gar nicht reden...“
 


...das ist typisch Stuttgart

„Was ist 'typisch Stuttgart'? Schlossplatz? Fernsehturm? Bahnhof? S21? Für mich ist 'typisch Stuttgart', dass ich die Stadt liebe. Diese Liebe wollte ich auf ein Foto bannen. Und ich hatte großes Glück, dieses Pärchen gesehen zu haben. Danke nochmals :)“
 


...das ist Kunst. – Oder kann das weg?
 
„Stuttgart ist voll von Kunst, die schon so fest zum Stadtbild gehört, dass sie von kaum jemandem wahrgenommen wird – und auch eigentlich weg kann. Oder? So wie die Mobile-Skulptur von Alexander Calder auf dem Schlossplatz. Dass der Künstler den gleichen Namen trägt wie ich, und dass dieser dann auch noch auf dem Kunstmuseum klebt, ist natürlich purer Zufall. Oder?“

 


...das ist gesichtslos

„Stuttgart. Schlossplatz. Freitreppe. Der Hot-Spot in der Stadt, bei dem es sich alles um „Sehen und Gesehenwerden“ dreht. Da kann ein älterer Herr schnell mal 'gesichtslos' und nicht gesehen werden.“
 


...das ist würzig

„Der Zitronenpfeffer, der sich auf Stuttgarts Pflastersteine ergießt, ist wirklich würzig. Ich hab's probiert. Und gesehen hat es auch keiner :)“
 


...das ist schwarz und weiß

„Schwarz und weiß, Männer und Frauen – mehr Gegensätze gibt es nicht. Und doch sind sie hier alle schön beisammen.“
 


...das bin ich

"..."


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